Kurze Geschichte des Strickens
Von den Anfängen bis zur Renaissance
Die Grundlagen des Strickens
Textile Fläche "Maschenware"
Maschenwaren entstehen durch ineinandergreifende Fadenschleifen
(Maschen), die aus einem oder mehreren Fäden gebildet werden
können (DIN 62050). Man unterscheidet dabei zwischen:
Einfadenware |
Kettfadenware |
Strick- und Kulierware |
Kettenwirkware |
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Für die Maschenbildung ist mindestens ein Faden erforderlich.
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Der Fadenverlauf erfolgt in Querrichtung.
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Eine Masche steht immer nur mit einer Masche über und unter ihr in
Verbindung und bildet ein Maschenstäbchen.
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Die Ware läßt sich aufziehen.
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Einfadenware läßt sich durch Wirken oder Stricken herstellen.
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Für die Maschenbildung ist ein Kettfadensystem erforderlich.
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Jeder maschenbildende Faden verläuft in Längsrichtung im Zickzack
durch die Ware.
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Die Ware läßt sich nicht aufziehen.
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Kettfadenware wird gewirkt.
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Gestrickt wird mit einzeln bewegten Nadeln. Kulierwirkware
entsteht mit gemeinsam bewegten Nadeln. Allerdings können die Nadeln
auch feststehen während der Stoff bewegt wird.
Die Entwicklung des Handstrickens
Vorstufen: Netzarbeiten mit einer Nadel
Das Filet
Die Anfänge des Strickens lassen sich nicht mit Sicherheit
zurückverfolgen. Semitische und anderer kleinasiatische Stämme
kannten bereits um 1900 v.Chr. eine Art Stricksocke. Wahrscheinlich ist die
Technik des Strickens eine Weiterentwicklung aus dem Verknoten bzw. Verschlingen
von endlichen Fäden zu einer Netzarbeit (Filet). Dabei muß
der Fadenanfang versteift, also z. B. in eine Nadel eingefädelt sein,
da die gesamte Fadenlänge durch die Maschen gezogen werden muß
(Abb. 1). Um nicht laufend einen neuen Faden anknüpfen zu müssen,
kann man den Faden um eine längliche Spule wickeln. Es entsteht ein
netzartiger Grund, in den man Muster einarbeiten kann. Ein Kupferstich (Abb.
2) zeigt die Jungfrau Maria bei der Arbeit an einem Hemd für das Jesuskind.
Heute wird das Filet zur Herstellung bestimmter Spitzen
verwendet.1
Abb. 1: Maschenbildung beim Filet.
Abb. 2: Maria bei der Filetarbeit. Von Veit Stoß, um 1480.
Die Nadelbindung
Dem Filet in der Arbeitsweise ähnlich ist die Nadelbindung
(Naalbinding). Diese Technik wird heute meist mit den Wikingern verbunden,
ist jedoch weitaus älteren Ursprungs und läßt sich bereits
in der Jungsteinzeit nachweisen. Wie das Filet wird die textile Fläche
mit einer einzelnen Nadel gebildet, mit deren Hilfe der gesamte Faden durch
eine oder mehrere bereits geformte Maschen gezogen wird (Abb. 3). Diese Technik
läßt sich genauso wie das Filet eher mit dem Nähen als dem
Stricken oder Häkeln vergleichen. Denn im Gegensatz zu Filet und
Nadelbindung wird beim Stricken und Häkeln eine neue Masche dadurch
gebildet, dass nur ein kleines Stück Faden mit einer (Haken-) Nadel
durch eine einzelne, schon bestehende Masche gezogen und zu einer neuen
Fadenschlaufe geformt wird.
Naalbinding-Produkte und Gestricke zeichnen sich durch einen elastischen
und engen Sitz aus, selbst an schwierigen Körperpartien wie Kopf,
Händen und Füßen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass
Nadelbindung und Stricken gerade in Gebieten mit kaltem Klima eine besondere
Blüte erlebten. Die Nadelbindung war allerdings im europäischen
Mittelalter eher im skandinavischen und slawisch/baltischen Raum verbreitet.
In Zentraleuropa finden sich dagegen nur wenige Beispiele für diese
Variante - meist aus dem hochadligen oder klerikalen Umfeld. Sonst zog man
in unseren gemäßigten Breiten das Stricken der Nadelbindung vor.
Wie diese geographische Teilung zustande kam, drückt ein finnisches
Sprichwort sehr treffend aus: "Der, welcher gestrickte Fäustlinge
trägt, hat eine ungeschickte Frau."
Abb. 3: Maschenbildung bei der Nadelbindung.
Das Sprichwort ist ein Hinweis auf wesentlichen ökonomischen Unterschied
zwischen der Nadelbindung und Strickware, der dort an Bedeutung gewinnt,
wo die mittelalterliche Gesellschaft den Wandel zur Geldwirtschaft vollzieht.
Nadelbindung erfordert einen weitaus größeren Zeitaufwand und
größeres handwerkliches Geschick als Stricken und eignet sich
deshalb eher für die Deckung des Eigenbedarfs in kleinen Dorfgemeinschaften.
In den aufblühenden Städten Zentral- und Südeuropas dagegen
konnte die Nadelbindung als Handelsware mit dem effizienteren Stricken nicht
konkurrieren.
Hauptsächlich wurde die Nadelbindung für Herstellung von
Fäustlingen verwendet. Im englischen York wurde bei Ausgrabungen auch
eine mit dieser Technik hergestellte Socke aus dem 10 Jh. n. Chr. entdeckt,
die wohl bis zum Fußknöchel reichte. Das
Museumsdorf Düppel
hat in jüngster Zeit Versuche angestellt, mit Hilfe der Nadelbindung
Gugeln für den bäuerlichen Gebrauch herzustellen.
Stricken: Zwei Nadeln und mehr
Das echte Stricken schließlich entwickelt sich wahrscheinlich
nicht sehr viel später oder parallel zur Nadelbindung. Der offensichtlichste
Unterschied zu den Vorstufen des Strickens ist die Benutzung von zwei anstelle
einer Nadel und die damit einher gehende veränderte Art der Maschenbildung.
Bereits die Antike kannte Strickwaren, auch wenn sie - wohl wegen des warmen
Klimas - selten genutzt wurden. So kannten die Griechen einen Stricksocken.
Ein Stricktrikot war traditioneller Bestandteil der griechischen
Theaterkostüme. Hier hielt die flexible Maschenware Körperpolster
am Platz.
Mit dem Niedergang der antiken Kulturen verliert auch das Stricken nach dem
5. Jahrhundert an Bedeutung in Europa, doch wurde offenbar nie ganz vergessen.
Andere Theorien besagen, das Stricken sei durch die in Spanien eindringenden
Araber re-importiert worden. Die interessantesten Beispiele für die
hochentwickelte Strickkunst der spanischen Mauren sind gemusterte
Kissenbezüge aus dem späten 13. Jahrhundert, die in den Gräbern
der kastilischen Königsfamilie gefunden wurden.
Abb. 4: Stricken mit vier Nadeln.
Stricken in der liturgischen Mode
Im frühen Mittelalter waren liturgische Handschuhe offenbar die
häufigsten Strickwaren. Bischöfe gebrauchten sie vom sechsten oder
siebten Jahrhundert an, während einfache Priester mit Stücken aus
Stoff oder Leder vorlieb nehmen mussten. Ein Kircheninventar aus dem Jahre
800 zählt 16 Paar Handschuhe auf. Als Material dienten zumeist Wolle
und Seide, seltener auch Leinen. Auch für die Zeit zwischen 1200 und
1500 zeigen Siegelbilder Handschuhe als bischöfliches Attribut. Ihr
Gebrauch wird auch von zwei päpstlichen Bullen aus dem elften und
zwölften Jahrhundert bestätigt. Etliche Kircheninventare aus
Frankreich, Deutschland und Italien listen reich verzierte Handschuhe auf.
Die Zeiten überdauert haben aber nur wenige. Nicht alle der verbliebenen
Exemplare sind wirkliche Strickwaren, einige wurden auch durch Nadelbindung
hergestellt.
Stricken als häusliche Frauenarbeit
Neben diesem liturgischen Verwendungszweck entwickelte sich das Stricken
im Hochmittelalter zu einem typischen häuslichen Tagewerk der Frauen.
In diese Zeit muß auch die Entwicklung des Rundstrickens mit vier und
fünf Nadeln fallen. Die ältesten erhaltenen liturgischen Handschuhe
zeigen, dass diese Technik bereits bekannt war. Die erste zuverlässige
Abbildung stammt aber erst aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts.
Auf dem Gemälde Unsere Herrin von
Buxtehude2 strickt Maria mit vier Nadeln
den Rock des Jesuskindes. Babykleidung scheint zu dieser Zeit ein beliebtes
Einsatzgebiet für Maschenwaren gewesen zu sein.
Vereinzelt erscheinen vom siebten Jahrhundert an gestrickte
Strümpfe: So im 13. Jahrhundert in Italien und gegen Ende des 14.
Jahrhunderts auch in England. Henry IV. von England (1367 - 1413) soll
gestrickte Wollsocken getragen haben. Erhalten geblieben sind die gestrickten
Beinlinge3 des Bischofs Konrad Sternberg, der
1192 in Worms beerdigt wurde. Im 15. Jahrhundert kommen gestrickte Baretts
und Mützen (Schlappen oder Schläppchen) in Mode.
Zwischen 1500 und 1520 trennt man die Hose mit Schamkapsel in eine
oberschenkellange Hose und separate Strümpfe. Allerdings werden diese
Strümpfe zunächst noch flachgestrickt und auf der Rückseite
zusammengenäht.
Abb. 5: Barett, darunter eine Schlappe.
Die Entstehung des Handwerks
Gestricke haben im Mittelalter gegenüber den Geweben sicherlich
zunächst nur eine untergeordnete Stellung eingenommen. Dennoch nehmen
die Funde gestrickter Kleidung aus dem 14. und 15. Jahrhundert deutlich zu.
Die frühesten Erwähnungen des gewerblichen Strickens finden sich
im Jahr 1268 in Paris. Später wird die Gilde der Pariser Stricker 1366,
1380 und 1467 bestätigt. Weitere Gilden der Stricker werden in Doornik,
Niederlande 1429 und 1496 in Barcelona beurkundet. Es gibt auch Hinweise,
dass die Städte im Norden Frankreichs von fahrenden Strickern besucht
werden. In Deutschland werden im Jahre 1600 erstmals die Nürnberger
Hosen- und Strumpfstricker urkundlich erwähnt. Stricken wird sowohl
von Männern wie Frauen besorgt.
Das Handstricken hat sich im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters also
zu einem anerkannten Handwerk entwickelt. Zunächst nicht sehr hoch in
der Hierarchie der Handwerke angesiedelt, schafft es bis zum Jahre 1514 den
Aufstieg zu einer der sechs wichtigsten Handwerkergilden in Paris. Sehr
wahrscheinlich war diese rasche Aufwertung der Stricker eng mit der Forderung
nach möglichst körperbetonten Beinkleidern in der Männermode
verknüpft.
Der englische Pfarrer William Lee konstruiert 1589 die erste Kulierwirkmaschine,
mit der Strümpfe maschinell flachgestrickt werden können. Königin
Elizabeth I. fürchtet aber um die Arbeitsplätze der Handstricker
und verbietet die Maschine. Lee geht daraufhin nach Rouen in Frankreich,
wo er seine Erfindung erfolgreich vermarkten kann. Lee's Strumpfwirkmaschine
ist ein Vorbote der Mechanisierung im Textilgewerbe, welche im England des
ausgehenden 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution einläuten wird.
1 Dass mit dem Filet eine Form von Spitzen
hergestellt werden kann, sollte nicht zu der Annahme führen, Spitzen
seien ein mittelalterliches Bekleidungsaccessoire! Die klassische Nadelspitze
erscheint erstmals um 1530 in Italien. Das Wort Spitze findet sich zwar bereits
im Althochdeutschen (spizza, spizzi, mhd. Spitze), bedeutet
dort aber noch Garngeflecht oder gezackte Borte. Erst im 17. Jh. nimmt es
die heutige Bedeutung an, davor waren Zinnichen und Zinnigen
gebräuchlich. zurück
2 Das Gemälde wird Meister Bertram aus
München (um 1340 - 1414/15) zugeschrieben und soll um 1370 entstanden
sein. Es hängt heute in der Kunsthalle Hamburg.
zurück
3 In der englischen Übersetzung des
ursprünglich polnischen Aufsatzes "The Diffusion of Knitting in Medieval
Europe" von Irena Turnau wird der Begriff leggins benutzt, und nicht
das sonst übliche hose. zurück
Adebar-Dörel, Lisa und Ursula Völker. Von der Faser zum Stoff:
Textile Werkstoff- und Warenkunde. 31., überarb. Aufl. Hamburg:
Büchner, 1994. ISBN 3-582-05112-9.
Eberle, Hannelore [u. a.]. Fachwissen Bekleidung. 4., überarb.
Aufl. Haan-Gruiten: Europa Lehrmittel, 1995. ISBN 3-8085-6204-8.
Hutchinson, Elaine. "Nalebinding". Anglo-Saxon and Viking Crafts.
Website. Regia Anglorum Publications. 1999.
http://www.regia.org/naalbind.htm
Kühnel, Harry, Hg. Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung:
Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter. Kröners Taschenausgabe
453. Stuttgart: Kröner 1992. ISBN 3-520-45301-0.
Loschek, Ingrid. Reclams Mode- und Kostümlexikon. 4. Aufl. Stuttgart:
Reclam, 1999. ISBN 3-15-010448-3.
Thiel, Erika, Hg. Geschichte des Kostüms: Die europäische Mode
von den Anfängen bis Gegenwart. 6., verb. und erw. Aufl. Berlin:
Henschel, 1997. ISBN 3-89487-260-8.
Turnau, Irena. "The Diffusion of Knitting in Medieval Europe". N. B. Harte
and K. G. Ponting. Cloth and Clothing in Medieval Europe. Pashold
studies in textile history 2. London: Heinemann, 1983.
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